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"Just Culture" in der Luftfahrt


Kuno

Empfohlene Beiträge

Liebe Forumsteilnehmer

Das Thema «Just Culture» kommt in diesem Forum immer wieder auf, vor allem wenn bei einem Gerichtsfall ein Pilot verurteilt wird. Während es Forumsteilnehmer gibt, die (so empfinde ich es mindestens manchmal) fast schon «grundsätzliche Straffreiheit» für Piloten einfordern, gibt es eine ganze Anzahl hier mitschreibende Piloten, die eher der Meinung sind, dass dem eben nicht so sein soll.

Um nun nicht bei jedem einzelnen Fall von Vorne beginnen und die Diskussion um die «Just Culture» neu starten zu müssen, dachte ich mir, man könnte dafür doch auch ein separates Thema aufmachen. Um einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu schaffen, schlage ich erstmal die folgende Definition vor:

A JUST culture is a sophisticated concept for which an internationally accepted definition does not exist at this time;  However ICAO see an urgent need to establish an effective balance between the requirements for improving aviation safety, and national and international requirements for administering justice.  It is proposed that ICAO Annex 13 be amended to include a description of a JUST culture.

The proposed definition is, "A culture in which frontline operators or others are not punished for actions, omissions or decisions taken by them that are commensurate with their experience and training, but where gross negligence, wilful violations and destructive acts are not tolerated."

It is hoped that the adoption of a JUST culture will greatly facilitate reporting and sharing of safety data, thereby improving aviation safety.

 

Das habe ich von dieser Firma: http://www.rdcollins.com.au/FAQRetrieve.aspx?ID=32593

 

Ich hätte noch zwei Bitten (rein formell bringe ich diese mal an, ich erwarte natürlich nicht, dass man darauf auch eingeht):

  • Bitte beim Thema bleiben (Keine Beiträge zu Weihnachtsschmuck, Schweizer Atombomben etc.)
  • Bitte einen anständigen Umgangston bewahren - nicht alle, die nur anderer Meinung sind, sind per se auch unwissende Vollidioten ? 
Bearbeitet von Kuno
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JUST CULTURE wird nicht nur in der Fliegerei sondern allgemein in der Industrie und Medizin angewandt.

Gute Definition auf Wikepedia:

 

Just Culture is a concept related to systems thinking which emphasizes that mistakes are generally a product of faulty organizational cultures, rather than solely brought about by the person or persons directly involved.

In a just culture, after an incident, the question asked is, “What went wrong?” rather than “Who caused the problem?”.

A just culture is the opposite of a blame culture.

A just culture helps create an environment where individuals feel free to report errors and help the organization to learn from mistakes.

 

This is in contrast to a “blame culture” where individual persons are fired, fined, or otherwise punished for making mistakes, but where the root causes leading to the error are not investigated and corrected. In a blame culture mistakes may be not reported but rather hidden, leading ultimately to diminished organizational outcomes.

 

In a system of just culture, discipline is linked to inappropriate behavior, rather than harm. 

This allows for individual accountability and promotes a learning organization culture.

In this system, honest human mistakes are seen as a learning opportunity for the organization and its employees.

The individual who made the mistake may be offered additional training and coaching. However, willful misconduct may result in disciplinary action such as termination of employment—even if no harm was caused.

 

Work on just culture has been applied to industrial, healthcare, aviation and other settings.

https://en.wikipedia.org/wiki/Just_culture

 

Bearbeitet von guy
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Ein Punkt, den ich gerne noch einwerfen würde: In einer echten «Just Culture» wäre es doch sicher auch so, dass ich, wenn ich einen Fehler bei mir entdecke und melde (bevor etwas passiert ist ?), es sehrwahrscheinlich so sein würde, dass ich dann mit der Verbesserungsmassnahme betraut würde... und genau da, so meine eigene Erfahrung, mangelt es dann gerne am Willen, sich auch wirklich einzubringen. Man lässt oft lieber etwas in einem unsicheren Zustand, als dass man es meldet, und sich danach auch die Mühe macht, die nötige Verbesserung umzusetzen (bzw. dabei mitzuhelfen). Nun arbeite ich nicht in der Luftfahrtindustrie... kann mir aber vorstellen, dass es dort am Ende genau gleich läuft, wie überall sonst auch.

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Eigentlich geht es nur darum, für das Melden löchrige Käsescheiben nicht bestraft zu werden, auch wenn man im konkreten Fall selber Teil des Lochs geworden ist, dies jedoch nicht aufgrund eines Charakterfehlers, sondern aus systemischen Gründen, die grösstenteils in der Unternehmensstruktur begründet sind. 

 

Z. B. wird man mit der Fussball-Jugendmannschaft aus  einem beliebigen Greyerzer Voralpen-Dorf auch dann nicht gegen Real Madrid gewinnen, wenn man für das Spiel den weltbesten Torwart engagiert. Die unvermeidliche Niederlage ist dann weder Schuld des Trainers noch des weltbesten Torwarts. Da gibt's dann einfach schon organisatorisch auf dem Spielfeld zu viele Löcher im Käse. ?

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Just culture hat auch noch einen anderen Hintergrund:

Ein Unfall hat meist keine singuläre Ursache, sondern ist eine Verkettung oder Abfolge diverser Ereignisse, in denen die Barrieren versagt haben.
Das System Aviatik ist glücklicherwreise inzwischen sehr, sehr sicher geworden. Die Anzahl Unfälle ist derart gering, dass sich daraus keine Schlüsse ziehen lassen, wo die Schwachstellen im System sind.

Bevor eine Katastrophe passiert, kommt es sicherlich mehrmals vor, dass ein Fehler passiert, die übrigen Barrieren oder Sicherheitssysteme greiffen ein und verhindern eine Katastrophe. Um wieder mal das swiss-cheese model zu rezitieren: Mehrere Löcher übereinander, nur eine Scheibe hat dicht gehalten. Wird das nun nicht gemeldet, lässt sich ein System nicht verbessern oder es können keine Fortschritte erzeilt werden. Man wird nicht sicherer, sondern hofft einfach auf eine kleine Wahrscheinlichkeit, dass alle Löcher übereinander liegen.

Die Sicherheitsabteilung ist nun aber brennend daran interessiert, jedesmal darüber informiert zu sein wenn etwas "nicht nach Plan" läuft. Nur so können sie frühzeitig Tendenzen erkennen und die Barrieren verstärken.
Damit aber auch möglichst alle Fälle gemeldet werden, sei es ein System das fehlerhaft arbeitet oder ein Mensch, muss man auch straffreiheit in Aussicht stellen. Eine Einstellung "Ist ja zum Glück nix passiert, nochmal gut gegangen..." ist ein Szenario, in dem die Katastrophe hinter der nächsten Ecke lauert und diesmal einfach nur per Zufall nicht eingetreten ist.

 

Wer in Just culture den Fehler meldet, muss nicht zwingend auch die Lösung liefern. Eine Analyse wird erstellt und der Melder muss unter Umständen Details nachliefern.

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Just Culture hat aber eine gewaltige Schwachstelle: Fähigkeit zur Selbstreflexion. 

 

Leider gibt es zu viele Piloten, die entweder komplett von sich überzeugt sind (gibt da diverse Forumsteilnehmer, die diesen Eindruck hinterlassen) und/oder Fehlverhalten gar nicht als solches realisieren. 

 

Ein klassisches Beispiel aus der Segelfliegerei bevor FLARM implementiert wurde. Diverse Piloten haben gewettert "ich habe noch nie ein anderes Flugzeug übersehen". Diese Aussage kann man gar nicht tätigen, da man es ja per Definition nicht weiss. 

 

Weitere Beispiele sind die Überschätzung der Piloten "die Piloten der JU-52 waren absolute cracks...". Da vermisse ich einfach die kritische Hinterfragung, die für just culture notwendig wäre. So verkommt es leider zu einem theoretischen Flickwerk in dem Kleinigkeiten gemeldet werden (und die Gutmenschen holen sich dann einen runter) aber es der Sicherheit keinen wahren Mehrwert bringt. 

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Hallo "aka"

 

Es gibt sicherlich auch die Leute, welche Du in Deinem subjektiven Beitrag erwähnst.

Aus mittlerweile über 20 Jahre Erfahrung in der professionellen Fliegerei kann ich Dir bestätigen, dass diese "just culture" schon so einige grossen Löcher im Schweizer Käse hervorgebracht hat (auch dies ist meine subjektive Meinung).

 

Vielleicht tut es der Diskussion ganz gut, wenn man professionelles Fliegen und Hobby-Fliegen in dieser Frage ein wenig trennt (aus Sicht der Piloten). Nicht, dass man mich falsch versteht: diese Kultur würde jedem Piloten gut tun.

Jedoch scheint mir in den Diskussionen rund um diese Themen, dass die Berufspiloten sich doch eher mit diesem Thema beschäftigen (korrigiert mich bitte, sollte ich falsch liegen). Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass ganz viele Berichte von Berufskollegen geschrieben wurden und diese in einer Zusammenfassung zu lesen, macht Eindruck. Die Überlegungen, welche man sich dann Pilot macht, sind extrem hilfreich und bereiten Dich noch besser auf Situationen vor, welche Du Dir vor dem Lesen so nie vorstellen konntest.

Gerne ein kleines Beispiel: mit einem Type Rating darf man sowohl den A340-300 wie den A340-600 fliegen. Dabei kann das Startgewicht um über 100 Tonnen variieren. Die Start-Leistungsberechnungen für diese 2 Flugzeuge sind dabei bei vollster Konzentration durchzuführen.

Vor einem Zwischenfall bei South African Airways in Johannesburg hat man sich hierzu keine grossen Gedanken gemacht. So ein Fehler kann nicht passieren. Nach dem Zwischenfall wurde die "awarness" geschärft. Gab es vor dem Zwischenfall in Jo'burg keine fehlerhaften Berechnungen bei diesem "mixed Fleet flying". Ganz sicher... Nur hat niemand auf den gemachten Fehler hingewiesen...

 

Ich bin ein absoluter Fan von dieser Just Culture. Leider hinkt unser Rechtssystem Jahre hinter dieser Kultur...

 

Gruss

Patrick

 

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Hallo Patrick

 

Ich sage ja nicht, dass Just Culture kompletter "Hafechäs" ist. Aber es hat eine gewaltigte Lücke, die meiner Meinung nach gewaltig unterschätzt wird und dazu führt, dass Just Culture eben nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Gerade dein Beispiel mit der Trennung zwischen Berufs- und Hobbyfliegerei zeigt auch eine gewisse Arroganz bzw. Ignoranz der Berufsfliegerei. Als Flugplatzkind habe ich gelernt, dass keiner vor Fehlern befreit ist und bei vielen negativen Beispielen waren Berufspiloten involviert (okay, der Fairness halber muss ich sagen, dass es im privaten Kontext war und nicht während der Arbeit). Ausbildung und Lizenzierung helfen natürlich, dass die Fehlerquote besser wird aber es befreit niemanden vor Fehlern. 

 

Als kleines Beispiel: Tankstelle in Samedan. Eine Dimona mit zwei Personen plus ordentlich Gepäck wird betankt (hier hat Falconer sein Beispiel von überladenen Kleinflugzeugen....). Nach unserem Gefühl dauerte der Tankvorgang seeeeehr lange. Auf den Hinweis, ob das okay ist mit weight+balance kam nur ein "heb dschnurre, ich bin captain bi de Swiss". Auf der Piste 21 kam die Dimona auf Höhe des ehemaligen Fussgängerwegs in die Luft und mit wenig Reserve über die Bahnleitung. Ich hätte erwartet, dass die Swiss mehr Wert auf Selbstreflexion legt. 

 

P.S. ich glaube sogar, dass der Pilot der "berühmten" Jodel in Samedan, der kriminell tief über den Golfplatz gebrettet ist auch ein Airline-Captain war.....

Bearbeitet von aka
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vor 12 Stunden schrieb Wingman340:

Leider hinkt unser Rechtssystem Jahre hinter dieser Kultur...

Wir müssen dazu berücksichtigen, dass die Profi-Fliegerei halt schon ein ausgewählter Schlag an Menschen beschäftigt. Die Just Culture setzt voraus, dass man es mit einem kompetenten und kooperativen Akteuren zu tun hat. Hochspezialisiert, standardisiert, optimiert, eine Auswahl von Menschen mit hoher Kompetenz die positive Absichten verfolgen, die auch wissen dass sie etwas zu verlieren haben (Leben, Job) wenn sie nicht die erforderliche Gewissenhaftigkeit an den Tag legen. Innerhalb dieser Selektion ist es natürlich einfacher, ein "Rechtssystem" in eine Richtung zu optimieren.

 

Unser bürgerliches Recht kann sich die Leute aber nicht aussuchen, es muss alles und alle abdecken. Von IQ 10 bis IQ 200. Gewissenhafte bis hin zu grundtief böse Menschen. Es muss aus ethischer Korrektheit Dinge verbieten, die aus objektiver Sicht Sinn machen würden. Es muss regeln, wann Rasenmähen zumutbar ist. Jedenfalls darf man ruhig auch respektieren, dass unsere Rechtssysteme sich über Jahrtausende entwickelt haben, von ganz vielen gescheiten Menschen, und auch seine Berechtigung haben. Unser Rechtssystem wurde jedenfalls schon viel viel mehr auf den Prüfstand gestellt (mit Abstimmungen, mit Gerichtsentscheiden, und so weiter) als die Just Culture in den letzten 100 Jahren der Fliegerei, ist also ein extrem fein ausgefeiltes Werk. Wenn jemandem ein Passus im Strafgesetzbuch komisch vorkommt, dann fragt mal einen Juristen, und ihr werdet sehen dass eben vieles seine Berechtigung hat wie es drin steht - oder die Alternative noch schlechter wäre.

 

Meine Prognose ist, dass das Rechtssystem sich wenig ändern wird. Wie soll das Just-Culture-Rechtssystem denn mit den Leuten umgehen, die auf eine Just Culture pfeifen? Sie dafür bestrafen??  Übrigens darf ich auch mal sagen, dass ausserhalb der Fliegerei nicht das Gesetz des Jungels herrscht. In ganz vielen Organisationen werden die Grundsätze einer Just Culture gelebt - nur als Kultur natürlich! Auf der Baustelle und in der Autogarage weniger, in Forschungsabteilungen der EMPA mehr. Das ist aber meine subjektive Erfahrung.

Bearbeitet von Hotas
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Die Trennung von Profifliegerei und GA in diesem Zusammenhang ist probematisch und auch nicht zielführend. Wie man sieht, leiden sowohl Profis als auch "Amateure" darunter, das was in anderen Ländern problemlos möglich ist, in der Schweiz dem Bestrafungswahn zum Opfer fällt. In den USA hat die FAA dies nach meinen Informationen aus AOPA und anderen Quellen recht gut im Griff sowohl bei Gross als auch klein. Es wird mit Augenmass und Fachkunde geurteilt. Und das notabene in einem Land, wo die gesamten Untersuchungsakten im Rahmen der Freedom of Information Gesetze frei einsehbar sind. 

 

In den letzten Fällen hier hat sich aber gezeigt, dass selbst Piloten selber hier geteilter Meinung sind. Und hier tut sich der Graben Profis vs Amateure besonders auf. Man fragt sich warum... gerade die Amateure, die dem Rechtsstaat praktisch ungeschützt ausgeliefert sind im Vergleich zu Profis, die oft die Airline, Organisation und Gewerkschaft mit grossen juristischen Abteilungen hinter sich wissen, sind hier oft der Meinung, ihre Pilotenkollegen sollen ruhig zu Kriminellen gemacht werden sollten sie einen Fuss falsch setzen. Ist das einfach die typisch schweizerische Missgunst? Oder was steckt dahinter? 

 

Hierbei geht es vor allem auch um Zwischenfälle die eben keinen Personenschaden verursacht haben. Bis vor einigen Jahren, wo noch keiner von Just Culture gesprochen hat, ging das doch. Erst seit gefühlt etwa 2000 nicht mehr? Woran liegt das?

 

Liegen Personenschäden vor ist die Sache klar anders, da liegt die Diskussion z.b. beim Unfall in Schaffhausen etwas im argen. Dort allerdings wäre es sehr wünschenswert, wenn die ensprechenden Gerichtsbarkeiten mit dem nötigen Fachwissen ausgestattet sind. Dies gilt eigentlich in jedem Fall, nicht nur in der Aviatik. Einige Urteile der letzten Zeit lassen aber genau daran Zweifel. 

 

Schlussendlich aber muss eine Möglichkeit gefunden werden, wie die Just Culture und der Annex 13 Untersuchungsprozess mit der Rechtsordnung und auch dem Rechtsempfinden in einer Art zusammenarbeiten kann, dass die nötigen Lehren gezogen werden können sowie aber auch die Kooperation der Beteiligten mit Untersuchungsbehörden wieder ohne juristische Folgen möglich sind. Nicht mehr und nicht weniger ist eigentlich auch die forderung der ICAO. 

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Am 11.12.2019 um 09:44 schrieb aka:

Just Culture hat aber eine gewaltige Schwachstelle: Fähigkeit zur Selbstreflexion. 

 

Leider gibt es zu viele Piloten, die entweder komplett von sich überzeugt sind (gibt da diverse Forumsteilnehmer, die diesen Eindruck hinterlassen) und/oder Fehlverhalten gar nicht als solches realisieren. 

 

Da kommt dann (bei uns Airline-Piloten) das Flight Data Monitoring ins Spiel, die schon auch mal den Finger in die Wunde legen wenns nötig wird. Und Fahrlässigkeit wird auch nicht toleriert.
 

Gruß Alex

Bearbeitet von Alexh
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Hallo zusammen

 

Ich gebe aka und Urs teilweise recht, dass man in der Just Culture keinen Unterschied zwischen Hobby und Beruf machen soll(te).

Dass Berufspiloten, wenn sie hobbymässig unterwegs sind, sich nicht dieselben Gedanken machen wie wenn sie beruflich als Pilot fliegen, ist mir schon mehrmals aufgefallen (deswegen der Unterschied zwischen dem "Flug" (Hobby oder beruflich) und nicht den Piloten).

 

Was jedoch meine subjektive Erfahrung ist, sind die durchschnittlichen Trainings und Refresher.

Jeder Pilot, den ich beruflich kenne, durchläuft pro Jahr mehrere Ground-Kurse und Simulator-Fluge. Diese sind qualifizierend. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es normal war, dass ich jeden Monat ein Bulletin (als es noch Papier gab) erhielt, in welchem auf ca. 20 Seiten die Vorfälle der jeweiligen Flotte aufgearbeitet und Schlussfolgerungen aufgelistet wurden. Diese "Lektüre" half mir enorm, mich mental auf eventuelle Probleme einzustellen. Und sicher mich ganz sicher das eine oder andere Mal vor einem Zwischenfall geschützt.

 

Viele Piloten, welche ich in der Hobby-Fliegerei kenne, durchlaufen eben nicht diese Programme. Da hängt es viel mehr davon ab, ob und wie "motiviert" man ist, sich mit den gemachten Fehlern anderer Fliegerkollegen auseinander zu setzen.

 

Gruss

Patrick

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Ich habe kürzlich einen jüngeren Herrn, ca 30-35 Jahre alt, an einer Bar im Flughafen angetroffen. Er ist mir mehrmals aufgefallen, weil er jedes mal 5-6 grosse Biere (2,5-3 Liter!) getrunken hat. Wir kamen ins Gespräch und er erklärte mir, dass er Pilot sei. Für mich glaubhaft, er zeigte mir eigene Fotos im Cockpit und auch sein detailliertes Fachwissen bestätigte es mir. Ich fragte ihn, ob er seinen Bierkonsum verantworten könne. Er entgegnete, dass er erst am anderen Morgen 10 Uhr fliegen müsse. Er fliegt Airbus einer jungen schweizerischen Fluggesellschaft. Lebt er nach der " Just Culture" und hat sich geoutet???

An einem anderen Tag im Zug von Zürich zum Flughafen. Zwei Herren ca 50 Jahre alt in Uniform mit Crewbag der Swiss unterhalten sich und kurz vor dem Aussteigen nehmen beide ein Pfeffeminz Bonbon. Vermutlich hatten beide Knoblauch im Menü ?. Meine Gedanken sind frei...

Bearbeitet von Ueli Zwingli
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Mal ein Beitrag in die andere Richtung. Während es "Just Culture" und ähnliche Dinge mit unserer aktuellen Rechtssprechung nicht unbedingt eifnach haben...

...kommt manchmal der Eindruck auf, dass man sich einfach zuerst richtig gut besaufen oder mit Drogen vollstopfen muss, um danach vom Gericht als "nicht" oder wenigstens "vermindert schuldfähig" eingestuft zu werden und entsprechend milde bestraft zu werden.

 

Mein Eindruck mag mich täuschen, aber es kommt mir so vor, als wäre in letzter Zeit recht häufig über solche Fälle berichtet worden. Das aktuelle Beispiel findet sich heute im Blick:

 

"Motiv? Keines. Ein Alkoholtest ergab, dass D. die Tat mit 1,76 bis 2,53 Promille begangen hatte. Das Opfer liegt einen Monat im Koma, überlebt nur ganz knapp."

Und schlussendlich: "Die Strafe wird laut Bericht auf vier Jahre reduziert – unter anderem wegen «schwerstgradig vermindeter Schuldfähigkeit»."

 

Der ganze Artikel findet sich hier: https://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/opfer-ins-koma-gepruegelt-doktorand-theo-d-muss-nur-4-jahre-in-den-knast-id15671126.html

 

Aber auch hier, finde ich, wäre es wahrscheinlich nicht richtig, nur auf dem Gericht rumzuhaken - ich glaube, die haben ganz einfach so gehandelt, wie es ihnen die Gesetze in ihrer aktuellen Form vorschreiben (wobei man bei diesem Beispiel ja auch grad wieder gut erkennen kann, dass der Speilraum, den ein Gericht hat, oft nicht gerade klein ist ? )

 

Frage zum Schluss: Wenn die erste Instanz "falsch" urteilt, und dann vom Obergericht ein viel milderes Urteil kommt - wird die erste Instanz dann für ihren "Fehler" gerügt?

 

 

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Hallo Kuno

 

Ein spannendes Thema, welches sicherlich zu viel angeregter Diskussion führt.

Ich würde es jedoch bevorzugen, wenn man von Dir "angezogene" Thema (der vorige Beitrag) nicht mit der Just-Culture vermischt.... Sonst könnte man den Eindruck, dass "sich richtig gut besaufen" zur Kultur der Luftfahrt gehört ? 

 

Gruss

Patrick

 

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Am 13.12.2019 um 00:21 schrieb Ueli Zwingli:

Ich habe kürzlich einen jüngeren Herrn, ca 30-35 Jahre alt, an einer Bar im Flughafen angetroffen. Er ist mir mehrmals aufgefallen, weil er jedes mal 5-6 grosse Biere (2,5-3 Liter!) getrunken hat. Wir kamen ins Gespräch und er erklärte mir, dass er Pilot sei. Für mich glaubhaft, er zeigte mir eigene Fotos im Cockpit und auch sein detailliertes Fachwissen bestätigte es mir. Ich fragte ihn, ob er seinen Bierkonsum verantworten könne. Er entgegnete, dass er erst am anderen Morgen 10 Uhr fliegen müsse. Er fliegt Airbus einer jungen schweizerischen Fluggesellschaft. Lebt er nach der " Just Culture" und hat sich geoutet???

An einem anderen Tag im Zug von Zürich zum Flughafen. Zwei Herren ca 50 Jahre alt in Uniform mit Crewbag der Swiss unterhalten sich und kurz vor dem Aussteigen nehmen beide ein Pfeffeminz Bonbon. Vermutlich hatten beide Knoblauch im Menü ?. Meine Gedanken sind frei...

 

Hallo Ueli

 

Die Just-Culture greift vor allem in den Berufsalltag.

Wenn der Kollege, den Du angetroffen hast, wirklich Pilot ist, dann hat er (nach Deinen Erzählungen) ein Problem, welches man mit "Just Culture" nicht lösen kann.

Und Pfefferminz-Bonbon können durchaus (wie Ricola auch) zu einer Kultur gehören ?

 

Gruss

Patrick

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Hallo Ueli,

 

danke für Deinen Beitrag zu diesem Thema. Er ist eine Steilvorlage dafür, klarzustellen was unter Just Culture gemeint ist und was explizit nicht.

 

Zuerst und wichtigstens: Just Culture ist KEIN Freibrief für irgendwelche Vergehen die in Absicht oder mit grober Fahrlässigkeit begangen werden.

 

Die ganze Idee der Just Culture hat nur ein Ziel: Fehler sollen von den Betroffenen ohne Angst vor Strafverfolgung gemeldet werden können und diese Meldungen sollen dafür eingesetzt werden, aus den Fehlern zu lernen und die Sicherheit des unter Just Culture operierenden Betriebes zu verbessern. In der Aviatik ist die Just Culture unter anderem im Annex 13 der ICAO (Unfalluntersuchung) verankert, in der die Untersuchungsbehörde als EINZIGEN Zweck der Untersuchung die Vermeidung von weiteren Unfällen und das Lernen aus Un- und Vorfällen hat. Die Juristische Aufarbeitung von solchen Fällen ist explizit ausgeschlossen.

 

Die von Dir beobachteten Sachverhalte, wenn sie denn so waren wie sie ausgesehen haben, sind schwerwiegende Verdachtsmomente gehen einen Piloten. Er kann in einem solchen Fall Just Culture dann erwarten, wenn er feststellt, dass er beim Dienstantritt noch unter dem Einfluss von Alkohol steht und sich unter ehrlicher Offenbarung der Gründe vom Flug abmeldet. Er kann es NICHT erwarten, wenn er den Flug vorsätzlich oberhalb der Alkoholgrenze antritt (Vorsatz), ebensowenig wenn er dies vertuschen will, also z.b. sich krank meldet, da er damit den Bruch von Treu und Glauben begehen würde, den die Just Culture voraussetzt.

 

Die hier diskutierten Vorfälle sind hier klar anderst gelagert. Sie sind in der Ausübung der fliegerischen Tätigkeit ohne Vorsatz geschehen und wurden von den Beteiligten wie vorgeschrieben vollumfänglich an die zuständige Behörde und intern weitergemeldet. In den meisten kritisierten Fällen haben die Sicherheitsnetze funktioniert, das heisst es ist kein Personen- oder sonstiger Schaden entstanden weil die Beteiligten den Fehler erkannten und korrigierend eingriffen. In solchen Fällen sind alle Voraussetzungen für eine Behandlung des Fehlers unter Just Culture gegeben und eine Strafverfolgung kontraproduktiv und entgegen der Grundsätze der Just Culture.

 

Bei Unfällen mit Personenschaden ist eine Untersuchung durch Strafbehörden unumgänglich. Just Culture in einem solchen Fall ist dazu da, die Unfalluntersuchung zu unterstützen, ohne das der Beteiligte daraus Nachteile im folgenden Strafprozess erwarten muss, heisst die offene Zusammenarbeit mit den Untersuchungsbehörden nach Annex 13. In einer solchen Untersuchung sollen die Beteiligten auch Sachverhalte zugeben können, die sie selber belasten, ohne dass dies auf das Strafverfahren eine Auswirkung hat. Im Strafverfahren kann niemand gezwungen werden sich selber zu belasten, in der ICAO Annex 13 Untersuchung hingegen soll dies eben möglich sein, damit der Zweck der Untersuchung (Lernen aus Fehlern) möglichst gut erfüllt werden kann.

 

Ich hoffe das macht es etwas klarer. Unter Umständen kann sich hier einer unserer Juristen nochmal klarer ausdrücken als ich.

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Ich hätte nicht gedacht, dass es zu dem Thema bereits so einschlägige Literatur gibt. 

 

Zunächst die rechtstheoretische Übersicht The Just Culture Principles in Aviation Law

 

dann ein kleiner Abriss auf deutsch: Just Culture in Organisationen: Wie Piloten eine konstruktive Fehler- und Vertrauenskultur schaffen

 

und die Veröffentlichungen von Decker: Just Culture: Balancing Safety and Accountability

sowie Just Culture: Restoring Trust and Accountability in Your Organization

 

Wurde im Spitalbereich auch filmisch umgesetzt... zeigt ein bisschen den Schaden auf, den eine punitive Kultur in einer Organisation anrichten kann. 

 

 

 

 

Bearbeitet von Dierk
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vor 9 Stunden schrieb Urs Wildermuth:

Zuerst und wichtigstens: Just Culture ist KEIN Freibrief für irgendwelche Vergehen die in Absicht oder mit grober Fahrlässigkeit begangen werden.

 

Wir reden auch von einem begangenen Vergehen, welche der Pilot nicht selber gemeldet hat, oder? Also z.B. in einen Luftraum eingedrungen, Die Jungs am Boden haben das bemerkt und nun nimmt alles seinen Lauf.

Hier ist eben die Frage, warum es passierte. Ist er absichtlich in den Luftraum eingedrungen? Oder weil er aus Bequemlichkeit keine Notams abgerufen hat? Oder im Cockpit auf dem Natel rumspielte? Oder war es eine Folge wegen Navigationsfehler? War es Absicht, fahrlässig oder ein Augenblicksversagen? Wer soll das beurteilen?

 

Strafe kann auch positiv wirken. Es wird in der Schweiz kaum zu schnell gefahren, weil die Strafen sehr empfindlich sind. Kaum fährt man über die Grenze nach Deutschland kann man sehr schön beobachten, dass Tempolimits bestenfalls als Empfehlung angesehen werden, eben weil vergleichsweise wenig passiert, wenn man erwischt wird. Und nun stelle man sich vor, es gäbe keine Strafen mehr... Der Mensch funktioniert halt so und ein Pilot ist auch nur ein Mensch.

 

Oder anders: Wieviele Luftraumverletzungen in Zürich gäbe es, wenn die Piloten nicht bestraft würden?

Auch wenn ich klar der Meinung bin, dass man für ein Augenblicksversagen ganz anders bzw. garnicht bestraft werden sollte, wie sollte es anders gehen? Man weiss halt nicht, ob er nicht doch am Natel rumspielte...

 

Chris

 

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vor 5 Stunden schrieb Pioneer300:

Wir reden auch von einem begangenen Vergehen, welche der Pilot nicht selber gemeldet hat, oder? Also z.B. in einen Luftraum eingedrungen, Die Jungs am Boden haben das bemerkt und nun nimmt alles seinen Lauf.

 

Im Prinzip der Just Culture wäre die Meldung durch die Beteiligten im Vordergrund, wobei bei Fehlern die nicht bemerkt wurden, diese auch nicht erfolgen kann. In diesem Fall wird das Verhalten der Beteiligten wesentlich: Besteht das ernsthafte Bestreben zur Aufklärung beizutragen, wird selbstkritisch hinterfragt wieso der Fehler entstanden ist und wird ein Beitrag dazu geleistet, dass andere aus dem Fehler lernen können. In diesem Fall sähe ich die JC immer noch gegeben, auch wenn keine Selbstanzeige geschieht sondern man erst nachträglich auf den Zwischenfall aufmerksam gemacht wird. 

 

vor 5 Stunden schrieb Pioneer300:

Oder anders: Wieviele Luftraumverletzungen in Zürich gäbe es, wenn die Piloten nicht bestraft würden?

 

Kaum mehr als heute denke ich. Die allermeisten Piloten haben einen Heidenrespekt vor den Lufträumen Zürich und dergleichen und werden kaum vorsätzlich eine solche begehen. In den mir bekannten Fällen haben die Beteiligten entweder bereits in der Luft oder dann aber erst durch einen Brief des BAZL mit Aufforderung zur Stellungnahme davon erfahren. Dem BAZL geht es dabei primär um die Ursachenforschung. Wenn ein Pilot zu dieser offen beiträgt und selbstkritisch hinterfragt was passiert ist und wie er es in Zukunft verhindern will, wird die Sache beim ersten Vorfall meist darauf belassen. Im Wiederholungsfall werden dann weitere Massnahmen geprüft bis hin zu Sanktionen. Solange keine weiteren Flugzeuge beteiligt sind (Airprox) bleibt dies normalerweise im Verwaltungsrecht, sprich BAZL. Eine Verzeigung geschieht erst im Wiederholungsfall durch das BAZL oder kann geschehen, wenn z.b. durch einen Airprox ein SUST Bericht ausgelöst wird und eine Strafbehörde dadurch darauf aufmerksam wird und entscheidet, das ein Vorfall strafwürdig sei, auch wenn keine Verzeigung durch das BAZL geschieht. Dies sind die Fälle, über die wir hier meist sprechen. 

 

vor 5 Stunden schrieb Pioneer300:

Strafe kann auch positiv wirken. Es wird in der Schweiz kaum zu schnell gefahren, weil die Strafen sehr empfindlich sind.

 

Dies ist die Ansicht der Staatsanwälte, die in den letzten Jahren mit ihren Anklagen die JC untergraben haben. Der Vergleich hinkt jedoch gewaltig. 

 

Erstens wird auch in der Schweiz zu schnell gefahren, kaum weniger oft wie anderswo, es geht mehr ums Ausmass. Aber ich persönlich kenne kaum einen Automobilisten, der nicht schon mal geblitzt wurde, wenige davon allerdings in dem Ausmass wo es zu einer Verzeigung kommt. 30er Zonen auf Hauptverkehrsachsen etc.. tun hierzu ihr übriges. Sicher, das gibt einen Lerneffekt beim Betroffenen, aber nur bei ihm. Dazu haben solche Ordnungsbussen kaum weitere persönliche Folgen ausser dass sie im Portemonnaie weh tun.

 

Leute hingegen, die mit Vorsatz Verkehrsregeln missachten, sind ein völlig anderes Kaliber, entsprechend werden sie auch richtigerweise anders behandelt. 

 

Die Idee der JC ist eben gerade, dass der Lerneffekt nicht nur bei den Beteiligten bleibt sondern eben durch entsprechende Publikationen weitergegeben wird an den Rest der im gleichen Tätigkeitsfeld bewegenden "Community" : In der Aviatik geschieht dies durch Bulletins ("Stay Safe" vom BAZL, Monatsbulletins der Flugschulen/Clubs) oder durch die Annex 13 Berichte. Die Community dort wird von Anfang an auf diese Berichte hingewiesen und die allermeisten lesen sie auch. Entsprechend herrschen in solchen Tätigkeitsbereichen eine völlig andere Einstellung zu einer Fehlerkultur. Dies ist nicht nur auf die Aviatik limitiert, sondern durchaus auch in anderen Bereichen mehr und mehr praktiziert. Eine solche Community, die eben fähig und willens ist, Fehler als Chance zum Lernen zu nutzen und entsprechend Zeit und Aufwand betreiben dies zu tun, unterscheidet sich gewaltig von anderen hier angeführten Vergleichen. 

 

 

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4 hours ago, Urs Wildermuth said:

Aber ich persönlich kenne kaum einen Automobilisten, der nicht schon mal geblitzt wurde, wenige davon allerdings in dem Ausmass wo es zu einer Verzeigung kommt.

 

Urs - das hat natürlich auch damit zu tun, dass die "Blitzer" nicht selten so aufgestellt werden, dass es richtig Einnahmen bringt. Nicht umsonst werden diese Einnahmen ja (heute im Normalfall) bereits ins Jahresbudget genommen - und man äussert sich seitens der betreffenden Stadt dann auch ab und zu mal enttäuscht, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden.

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  • 1 Jahr später...

Wieder mal hat ein Gericht vernünftig entschieden, insbesondere in Bezug auf 'abstrakte Gefährdung':

 

Quote

Ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr sei der Tatbestand nicht erfüllt. Ohne konkrete Gefahr gebe es in einer Fahrlässigkeitstat keine Schuld des Täters, auch wenn er sich noch so unsorgfältig verhalten habe.

 

Der Lotse der Skyguide wurde vom Zürich Obergericht freigesprochen.

 

Quelle:
https://www.nzz.ch/zuerich/skyguide-fluglotse-zweitinstanzlich-von-vorwurf-freigesprochen-ld.1602789
 

Skyguide-Fluglotse zweitinstanzlich vom Vorwurf der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs freigesprochen

Das Zürcher Obergericht hat einen Schuldspruch des Bezirksgerichts Bülach umgestossen. Es ist zu dem Schluss gekommen, ein 50-jähriger Flugverkehrsleiter habe im August 2012 in einer brenzligen Situation am Flughafen Zürich durch sein Verhalten keine konkrete Gefahr herbeigeführt.

 
Am 22. August 2012 ereignete sich am Flughafen Zürich eine gefährliche Annäherung zwischen einer Passagiermaschine und einem Sportflugzeug.

Am 22. August 2012 ereignete sich am Flughafen Zürich eine gefährliche Annäherung zwischen einer Passagiermaschine und einem Sportflugzeug.

Thomas Trutschel / Photothek.net / Imago

Immer und immer wieder wird am Freitag im Obergerichtssaal aus einem Bundesgerichtsurteil vom Oktober 2019 (6B_332_2019) zitiert, auch wenn die Zitate unterschiedlich ausgelegt werden. Der Tatbestand eines Gefährdungsdelikts sei nur bei Annahme einer konkreten Gefahr erfüllt. Die Frage, ob eine konkrete Gefahr vorliege, lasse sich einzig und allein an einem tatsächlichen Geschehnisablauf beurteilen. Hypothetische Möglichkeiten seien nicht zu berücksichtigen. In seinem damals viel beachteten Entscheid hatte das Bundesgericht einen Skyguide-Flugverkehrsleiter freigesprochen, der vom Zürcher Obergericht zuvor noch verurteilt worden war.

 

Nun steht ein Arbeitskollege jenes Beschuldigten wegen eines anderen Vorfalls, der schon achteinhalb Jahre zurückliegt, vor Obergericht. Er war vom Bezirksgericht Bülach im März 2019 wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 100 Franken verurteilt worden. Dagegen hat er am Obergericht Berufung eingelegt. Staatsanwalt Rolf Jäger ist in Anschlussberufung gegangen und fordert eine bedingte Freiheitsstrafe von 9 Monaten. Vor Bezirksgericht hatte er noch 14 Monate beantragt.

Annäherung über sich kreuzenden Pisten

Am 22. August 2012 kam es am Flughafen Zürich zu einer gefährlichen Annäherung zwischen einer Passagiermaschine und einem Sportflugzeug. Im Sportflugzeug hatte ein Flugschüler, der von einer erfahrenen Fluglehrerin begleitet wurde, Aufsetz- und Durchstartemanöver trainiert und auf der Piste 16 landen und gleich wieder starten wollen. Der beschuldigte Fluglotse hatte dies bewilligt, aber auch einer mit 15 Passagieren und 3 Besatzungsmitgliedern besetzten Passagiermaschine Saab 2000 von Darwin Airline auf Piste 28 die Starterlaubnis erteilt. Die beiden Pisten kreuzen sich.

Die Flugzeuge kamen sich in der Folge horizontal bis auf 256 und vertikal bis auf 30 Meter nahe, wobei das Sportflugzeug in einer scharfen Rechtskurve abdrehte. Die Crew der Passagiermaschine, durch das Kollisionswarnsystem an Bord alarmiert, erhöhte die Steigrate. Der Saab-Pilot meldete den Vorfall den Behörden, während der Fluglotse und die Fluglehrerin nichts unternahmen.

Vor Obergericht erklärt der 50-jährige Beschuldigte, der weiterhin als Flugverkehrsleiter bei Skyguide arbeitet und in etwas mehr als fünf Jahren seine ordentliche Pensionierung antritt, durch den Vorfall habe nie die Gefahr einer Kollision bestanden. Sein ursprünglicher Plan zur Führung der beiden Flugzeuge sei zwar nicht aufgegangen, deshalb sei er zweimal durch neue Funkanweisungen eingeschritten. Es habe keine gefährliche Situation bestanden, und der Vorfall sei auch keine «Beinahekollision» gewesen.

Der Verteidiger Lorenz Erni und Staatsanwalt Rolf Jäger gehen in ihren Plädoyers auf zahlreiche technische Details ein. Erni hatte kurz vor dem Prozesstermin ein neues Privatgutachten von Skyguide eingereicht, welches die Positionen des Sportflugzeugs anhand von neuen Radardaten während des massgebenden Geschehnisablaufs von rund 9 Sekunden genauer lokalisierte als die bisher vorliegenden Beweismittel. Erni stellt sich auf den Standpunkt, es habe nie eine konkrete Gefährdung der 20 Personen in den beiden Flugzeugen bestanden.

Staatsanwalt Jäger ist hingegen der Meinung, nur «ein kreatives und ausserordentlich unkonventionelles Verhalten» der Fluglehrerin habe die Kollision und einen Absturz des Trainingsflugzeugs verhindert. Es habe eine konkrete Kollisionsgefahr bestanden. Es sei «nicht mehr als ein Wimpernschlag» gewesen. Die «vorzeitige Startfreigabe» des Fluglotsen für die Passagiermaschine sei nicht nachvollziehbar und eine Sorgfaltspflichtverletzung gewesen.

Keine Schuld ohne konkrete Gefahr

Das Obergericht unter Vorsitz von Christoph Spiess schützt das Urteil des Bezirksgerichts aber nicht und spricht den Fluglotsen frei. Wegen der langen Verfahrensdauer erhält dieser eine Genugtuung von 2000 Franken zugesprochen. Zu Beginn seiner mündlichen Urteilseröffnung betont Spiess die Vielschichtigkeit des Falls: «Es ist eine hochkomplexe Sache.» Er stellt aber zugleich klar, Hypothesen seien nicht zu prüfen. Ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr sei der Tatbestand nicht erfüllt. Ohne konkrete Gefahr gebe es in einer Fahrlässigkeitstat keine Schuld des Täters, auch wenn er sich noch so unsorgfältig verhalten habe.

Der Flugverkehrsleiter habe zuerst dem Sportflugzeug die Bewilligung zum Anflug, danach der Saab 2000 die Freigabe zum Start erteilt. Das sei potenziell durchaus eine gefährliche Situation gewesen, wenn der Fluglotse nichts weiter unternommen hätte. Das habe er aber. Er habe nach kurzer Zeit erkannt, dass sein Plan nicht aufgehen würde, und habe zweimal innerhalb weniger Sekunden mit Funksprüchen eingegriffen. Das erste Mal wies er das Sportflugzeug an, rechts abzudrehen, das zweite Mal, eine engere Kurve zu fliegen.

Auch durch die Querlage des Sportflugzeugs sei keine konkrete Gefahr entstanden. In der Flugschule lerne man, Kurven bis zu 60 Grad zu fliegen, und hier sei die Querlage laut Gutachten weit geringer gewesen. Die Situation sei nicht durch Zufall oder eine andere Person entschärft worden, sondern durch den Fluglotsen selber. Das Verhalten der Fluglehrerin sieht das Obergericht nicht als besondere, aussergewöhnliche Leistung. Das müsse von ihr in einer solchen Situation erwartet werden, und sie habe ja letztlich nur die Anweisungen des Fluglotsen befolgt.

Skyguide hat mit einer Medienmitteilung auf den Freispruch reagiert und zeigt sich darin erleichtert. Bei dem Vorfall vom August 2012 sei es weder zu Sach- noch zu Personenschaden gekommen. Es gebe einen Widerspruch zwischen den internationalen Bestimmungen und der Schweizer Gesetzeslage und Rechtsprechung. Diese Situation müsse durch eine Änderung des Gesetzes gelöst werden. Eine Verurteilung hätte keinen Beitrag zur Verbesserung der Flugsicherheit geleistet.

 

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@FalconJockey Warten wir erst einmal ab, ob das Urteil rechtskräftig wird. Die Staatsanwaltschaft im Kanton Zürich hat erhebliche Ressourcen aufgebaut, um Flugverkehrsleiter und Privatpiloten in ihrem Zuständigkeitsbereich verfolgen zu können … 🤷🏼‍♂️

 

Das Urteil ist selbstverständlich erfreulich. Das Urteil zeigt aber auch, was es für einen solchen Freispruch braucht, nämlich beinahe 10 Jahre Ausdauer und zwar in jeder Hinsicht: Persönliche Energie, Geld, Zeit.

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